Mein Vater, meine Mutter und ich in den frühen 60ern
Heute ist mein Vater gestorben.
Jetzt möchte ich über ihn erzählen.
Begonnen sei mit der immer wiederkehrenden Frage, die ihn und mich unser Leben bis heute begleitet hat.
An mich hat sie sinngemäss immer so gelautet :„Er so konservativ, Du als Grüner, wie kommt ihr aus miteinander?“
Sein Vater starb, als er ein zwölfjähriges Kind war.
Das wollte er ein ein Leben lang sein: Ein guter Vater.
Deswegen hat er mich immer gelassen, immer meine Entscheidungen respektiert.
Meine Berufswahl war wohl nicht die, welche er für mich erträumt hat.
Aber selbst noch in den letzen Tagen, als ihm atmen und sprechen sehr schwer fiel, begann er jedes Gespräch wie seit Jahrzehnten: „Wie gehts den Grünen?“
Wir haben, bereits als ich Teenager war, viele Konflikte in einer Weise umschifft, die viele vielleicht als feig betrachten.
Wir sind ihnen aus dem Weg gegangen.
Schon meine Politisierung, die Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf 1978 gab den familiären Ton vor. Er stimmte aus Überzeugung mit Ja, ich teilte Flugblätter für das Nein aus.
Gestritten haben wir nicht. Er äusserte seinen Standpunkt, ich den meinen.
Streit suchte und fand ich woanders.
Dazu kam eine Eigenschaft meines Vaters: Sein Humor, gerade auch den eigenen Standpunkten, der eigenen Lebensweise gegenüber.
Wovon ist er wirklich überzeugt, wo spielt er seine selbstgewählte Rolle?
Das war uns Kindern damals wie heute nie gänzlich klar.
Ein Witz, ein lautes Lachen rundete Analysen ab, ja ersetzte sie.
Was ich ihm verdanke ist sehr viel.
Da ist vor allem das: Die Liebe zum Buch, zum geschriebenen Wort.
Seine riesige Bibliothek war mir von frühesten Jahren an abenteuerliche Fundgrube.
Keineswegs nur Literatur.
Als ich ihm als 13 jähriger gestand, Mario Puzos „Der Pate“ verschlungen zu haben, war er fast peinlich berührt.
Auch heute noch beginnt jeder Urlaub für mich in einer großen Buchhandlung, wo lustvolles unsystematische Stöbern grosse Vorfreuden weckt.
Und dann das Schreiben:
Von der „ allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“, hat mein Vater zwar nie gesprochen, aber auch jetzt ordne ich meine Gefühle und Erinnerungen an ihn, indem ich sie aufschreibe.
Dann:
Politik war omnipräsent.
Nein, das ist viel zu ungenau, ja beinahe falsch.
Nicht Politik, also Ideen, Konzepten, Strategien.
Sondern: Menschen.
Sie waren zahlreich bei uns zu Hause.
Z.B. einer, den mein Vater tief verehrt hat, Bruno Kreisky.
Seit Jahrzehnten hängt in seinem Arbeitszimmer ein gerahmtes Foto des damaligen Bundeskanzlers und ihm, das ihm Kreisky mit einer persönlichen, handgeschriebenen Widmung zukommen ließ.
Kreisky war im Ferienhaus meiner Eltern eingeladen. Mein Vater schickte mich Teenager mit dem Fahrrad aus, um ihm, ich erinnere mich genau, in seinem Rover DC den Weg zu zeigen.
Auf der Stiege begrüßte ihn dann als erstes meine Grossmutter mütterlicherseits, eine überzeugte Sozialistin mit einem lauten „Freundschaft“, was Kreisky etwas verwirrte und meinem Vater ein wenig unangenehm war.
Bei den Gesprächen durfte ich immer dabeisein.
Ich verstand vieles nicht, aber für mich waren diese prominenten Politiker fast immer sehr freundliche, warmherzige Menschen.
Als z.B. Karl Schleinzer, ÖVP Obmann in den 70ern, bei meinem Vater zu Gast war, sah er meinen Ping-Pong Tisch und fragte, ob ich Lust auf ein Spiel hätte.
Schleinzer hat mich dann gewinnen lassen.
So ist er bis heute in Erinnerung.
Hier gehts jetzt nicht darum, prominente Namen aufzuzählen.
Ich bin mir aber sicher, dass dieser unmittelbare, selbstverständliche Umgang mit sehr vielen Politiker/innen, welche die meisten nur aus den Medien kannten, für mich als Heranwachsender sehr prägend war.
Gelegentlich, nicht allzu oft, erzählte mein Vater bei Mittagessen am Sonntag auch delikate innerparteiliche Details, welche er aus den Politikergesprächen erfahren hatte.
„Warum schreibst du das nicht?“, wollte ich wissen.
„So etwas schreibt man nicht!“ erläuterte mir mein Vater die Praxis einer feinen, undefinierbaren, aber wichtigen Grenzziehung, die in Österreich das Verhältnis zwischen Politik und Journalismus mitbestimmt.
„Sie wissen gar nicht wieviel Lob ich vertragen kann.“
Oft hat mein Vater lauthals lachend diesen Satz Bruno Kreiskys zitiert.
Er hat dann auch eines seiner Bücher so benannt: Das Lob des Lobens.
Lob und Anerkennung war ihm wichtig.
Das hat er auch so ausgesprochen.
Es ist jetzt Jahrzehnte her, als das Mittagsjournal die „Presseschau“ hatte, und in einem Streifzug aus den Samstag-Leitartikeln zitiert wurde.
Die Stimmung am Wochenende war gerettet, wenn sein Name und sein Leitartikel zitiert wurde.
Als hochmütiger Jugendlicher hab ich dereinst diese Eigenschaft meines Vaters gar ein wenig verächtlich betrachtet.
Heute kenne ich sie bei mir ebenso wie bei den allermeisten Menschen: Das Bedürfnis nach Wahrnehmung, nach Lob, nach Anerkennung.
Wir sollten sie viel öfter geben, und selbst, wie er, dazu stehen.
Es ist eine bessere, humaner, freundlichere Gesellschaft, in der öfter gelobt und nicht nur (notwendige) Kritik geäussert wird.
Er ist immer dazu gestanden und hat z.B. seine vielfachen Ordensverleihungen geliebt. Sie waren ihm wichtig.
Ein einschneidender Schicksalsschlag traf ihn vor fünfundzwanzig Jahren aus heiterem Himmel: Eine starke Gehirnblutung.
Er war halbseitig gelähmt.
Und:
„Er wird möglicherweise nie wieder sprechen können“, beschied uns der Arzt nach der Operation.
Unmedizinisch laienhaft übersetzt: Jene Region im Gehirn, welche den Gedanken in formulierte Sprache „übersetzt“ war stark verletzt.
Dann kam jene Zeit, indem er mir zu einem großen Vorbild wurde.
Mein Vater, ein Kämpfer mit unbändigem Lebenswillen.
Die Sprache war sein Leben, sein Beruf, seine Leidenschaft.
Gelähmt war seine rechte Seite, also auch jene Hand, mit der er schrieb.
An dieser Stelle möchte ich mich vor meiner Mutter verneigen.
Nicht nur in den letzten Jahren, sondern seit seiner Gehirnblutung stand sie ihm in größter Liebe zur Seite.
Im nächsten Jahr, 2019 hätten sie ihre diamantene Hochzeit gefeiert, ihr 60 jähriges Ehejubiläum.
Wer die Wirrungen und Freuden, Enttäuschungen und Verletzungen von Liebesbeziehungen und Familie erfahren hat, kann nur den allergrößten Respekt vor einer so langwährenden Ehe hegen.
Nach seiner schweren Gehirnblutung kämpfte mein Vater ein Jahr hart darum, seine Sprache neu zu erlernen.
Es ist ihm mit größtem Einsatz auch gelungen.
Und er wollte wieder selbständig mobil sein.
Autofahren war nicht mehr möglich, aber allein in Wien unterwegs sein, allein U-Bahn und auch Straßenbahn fahren, das wollte er unbedingt.
Damals, Anfang der 90er gab es noch keine Niederflurwagen, die Straßenbahnen hatten hohe Stufen.
Er rief deswegen den Direktor der Wiener Linien an und ersuchte um ein paar Übungsstunden für das Ein-und Aussteigen.
Dann fuhr er in eine Remise und übte.
Bis auch das gelang.
Mit Schwung warf er sein gelähmtes Bein die Stufe hinauf und hantelte sich weiter.
Einfach weil er wollte, es wirklich, wirklich wollte.
Er hat sein Ziel erreicht, die Sprache wieder erlernt, allein Straßenbahnfahren erlernt.
Seit seiner Gehirnblutung hat er dreizehn Bücher verfasst.
Unter Mühen.
Und vor allem: In seiner geliebten Presse, der größten Leidenschaft seines Lebens hat er weiter Artikel und Kommentare verfasst. Sein erster Artikel in der Presse erschien 1957, sein letzter erst vor wenigen Wochen. 61 Jahre lang hat er in der Presse geschrieben. Eine so lange Zeit ist wenigen beschieden.
Daß seine Kommentare sehr vielen, darunter auch häufig mir missfielen, ist das eine.
Aber, um oben anzuknüpfen: Er hat mir immer meine Meinung gelassen, und mich als Sohn voll akzeptiert und geliebt. Völlig unbeschadet politischer Differenzen.
So habe ich es dann auch gerne gehalten. Es ist sein Leben, seine Meinung, er ist mein Vater, dem ich so viel verdanke, er hat mich immer gelassen, warum soll ich mir anmaßen, ihn umerziehen zu wollen?
Warum deswegen Streit?
Das ist sicher keine probate Strategie für andere. Vielleicht ist es auch feig und sogar ein wenig verlogen.
Aber wir haben ein langes Leben, ich bin heute 57 Jahre alt, mein Vater wurde 85, gut damit gelebt.
Mein Vater war gläubiger praktizierender Katholik. Jeden Sonntag gingen wir in die Kirche, er wählte ein Klosterschule, das Schottengymnasium für mich aus.
Als ich dann viel später ohne Groll aus der Kirche austrat, hat ihn das geschmerzt. Kritisiert hat er mich deswegen nie.
Über das Sterben wollte er nicht sprechen.
Selbst in den letzten Tagen, als ihm klar war, wie es um ihn stand, er aber bei voller geistiger Klarheit um Atem rang, auch da verbat er sich das Thema Tod.
Früher meinte er manchmal, wir mögen ihm seinen kindlichen Glauben lassen, daß er in den Himmel komme.
Aber, hier schlug der zweifelnde Journalist zu, ob das auch alles so wirklich sei, daran, so glaube ich zumindest, begann er zu zweifeln.
Wir hätten gerne mit ihm darüber gesprochen. Er wollte das nicht.
Auch das habe ich gerne respektiert.
Meiner Schwester, einer Ärztin verdanken wir, dass er eine umfangreiche Patientenverfügung verfasst hat. Sie verhinderte ein sinnlos hinausgezögertes Leiden.
Unsere letzte Begegnung vorgestern. Reden fiel ihm schon sehr schwer:
„Ich hab Dich lieb, gib mir ein Bussi!“
Ich küsste ihn zweimal auf die Stirn, sein Gesicht war von der Sauerstoffmaske bedeckt.
„Das waren zwei“ meinte er daraufhin, und ich glaube, er versuchte zu lächeln.
mein Vater und ich in den 70er Jahren